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Premiere: Lesung aus dem Kriegstagebuch des Pankraz G., Frankreich und Belgien 1916/17, 3. Teil

Emser Straße 131 12051 Berlin - zum Stadtplan
Einschränkung: Spende am Ende erwünscht (Hut geht rum).
Donnerstag 02.10.2014 - Anfangszeit: 20:00 Uhr
AUSZÜGE SIEHE UNTEN!

Ort: LAIKA Neukölln, Emser Str. 131, 12051 Berlin (S+U Neukölln).

Zeit: Donnerstag, 2. Oktober 2014, 20 Uhr.

Lesung von Theodor Schmidt aus einem unveröffentlichten Tagebuch aus seiner Tagebuchsammlung.

Pankraz G. ist 24 Jahre alt und seit zwei Jahren Soldat im 1. Weltkrieg. Ende 1915 tritt er in eine Regimentskapelle ein, in der er Flöte bläst; so ist er vorerst vom Frontleben befreit; nur bei Aufgaben wie Krankenträgerdienste oder das Einsammeln von Granaten erlebt er die Front hautnah.
Mit dem Leiter der Kapelle, Unteroffizier Sommerfeld, steht er in bitterer Feindschaft, weshalb Pankraz überlegt, aus der Kapelle auszutreten und an die Front zu gehen.

Pankraz ist ein sehr sensibler, nachdenklicher, melancholischer und unsicherer Bücherwurm, kleingewachsen, mit Brille und schütterem Haar. Er schreibt über den Krieg, viel über Liebe und Frauen (er hat viele wechselnde Freundinnen), über Literatur und die Kunst des richtiges Lebens; alles wunderschön formuliert, während um ihn das Donnern der Kanonen an der Front seine tägliche Geräuschkulisse ist.

In dieser Lesung wird der 3. Teil seiner Kriegs-Tagebücher präsentiert (November 1916-November 1917). Die ganze Zeit über ist er in der Kapelle tätig, die für die anderen Soldaten Musik macht. Eingesetzt ist er in Nordfrankreich (Douai und Umgebung), nach einem Heimaturlaub in Augsburg dann in Belgisch-Flandern (u.a. Pittem), dem Elsass (Mülhausen, Lutterbach, Schweighausen) und am Ende wieder in Nordfrankreich (Chéry-lès-Pouilly bei Laon).
Den vierten und letzten Teil gibt es dann am 7. November 2014 im LAIKA zu sehen.

Einige Auszüge:
30. Dezember 16: Meine Weltanschauung, meine Philosophie von der Nichtigkeit aller Dinge bewährt sich in allen meinen Lebenslagen. Nur fehlt es mir an Willens- und Charakterstärke, an Geist, um dieselben in den verschiedenen Lebenslagen anzuwenden. Vor allem rede ich viel unüberlegtes Zeug daher, was mir nur Schaden bringt. Wie gut stände mir eine gewisse bescheidene Zurückhaltung, Ruhe und gesetztes Wesen. Entspräche mein äußeres Verhalten nur einigermaßen meinem doch tiefen Wissen und auserwählten Geschmack, ich könnte eine Macht ausüben! Gibt es eine bessere Religion als die meine? Völliges Überzeugtsein von der Nichtigkeit und Zwecklosigkeit aller Dinge, aber aus freier Willensbestimmung Anerkennung einer schönen, edlen Menschlichkeit?

Sin-le-Noble, 9. Mai 17, abends: Ein Buch hat mir diesen Tag verpfuscht. Ging mittags nach Douai in die Buchhandlung und kaufte ‒ wie töricht ‒ einen Roman für 4 Mark von jenem verächtlichen Meyrink: Das grüne Gesicht. Ein ungesundes, giftiges Buch. Opium. Bis zur Hälfte gelesen, dann nur mehr durchflogen und eingepackt. Wie reut mich mein Geld! ‒

Waziers, 22. Juni 17: Ich lese gern von armen Menschen, die im Elend lebten, die bis in die Nacht hinein arbeiteten, auf Steinen schliefen und hartes Brot aßen. Solche Lektüre tröstet und macht genügsam. Darum lese ich auch mit Vorliebe russische Dichter. ‒
Seit meiner unglücklichen Liebe zu Leni Lindner fürchte ich mich vor der Liebe. Du lebst jahrelang leidlich ruhig dahin. Da kreuzt ein Weib von dem ernsten Typus, dem gegenüber ‒ und nur dem gegenüber ‒ du schwach bist, deinen Weg und stürzt dich in ein Meer von Schmerzen, in dem du vielleicht umkommst. ‒

10. Juli, abends: Ich vergleiche meine Fehler mit dem Unkraut, dem roten Mohn, den Kornblumen, den Disteln auf dem Felde. Der Bauer ereifert sich über sie; er geht vom Nützlichkeitsstandpunkt aus. Es besteht die Frage, ob sein Standpunkt der richtige ist? ‒

Beselare, 21. Juli 17: Diese Nacht unerbittliches Vernichtungsfeuer unserer Artillerie mit Gasgranaten. Englische Artillerie antwortet ebenfalls mit Gasgranaten. Vormittags dann Ruhe. Die vielen Toten, Verwundeten und Gaskranken wurden hereingebracht. Immer neue Transporte mit Gaskranken. Erschütternder Anblick, die armen Menschen mit dem Erstickungstode ringen zu sehen. Furchtbare Wirkung der neu angewandten Gase, das Tagesgespräch aller Soldaten. Verbrechen an der Menschheit. Teuflisch. Auch Konrad Nirschl diese Nacht durch Gas getötet. ‒

Lutterbach, 5. Oktober 17, morgens: Beim Erwachen dachte ich an Strindbergs wilde Mähne. Von Furien gepeitscht. Das von Schlangen umwundene Haupt aus der griechischen Sage. Habe ich doch auch ein paar solcher geistiger Ottern nicht ums Haupt, sondern in der Brust, und sie lassen mir keine Ruhe. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒

Barenton-Bugny, 9. November 17, vormittags: Heute ist der sehnliche Wunsch, der frohe Tag der Befreiung, wo ich, wo alle wir armen unterdrückten, gemeinen Soldaten diese feldgrauen Lumpen wieder mit den Zivilkleidern vertauschen können, möchte bald kommen, die tiefe schwärende Wunde meines Herzens, an die ich nicht rühren darf. Und der Gedanke, dass fühllose, teuflische Bedrücker am Werke sind, durch ihre habsüchtigen Machenschaften diesen Tag immer wieder hinauszuschieben, ist Gift für mich. Wie habe ich auch den Militarismus, diese lastende Kette, womit man die Freiheit der Völker bindet, hassen gelernt! ‒

von: tucholsklavier

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