Wie ist es möglich, das menschliche Gehirn und die Gesellschaft mit Hilfe von Formeln zu beschreiben? Inwiefern haben Gehirn und Gesellschaft ähnliche Strukturen? Peter-André Alt im Gespräch mit der Physikerin Viola Priesemann über Parallelen zwischen neuronalen und sozialen Netzwerken, die Aussagekraft von Modellen sowie philosophische und gesellschaftliche Implikationen ihrer Forschung.
Viola Priesemann erforscht, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Besonders interessiert sie, wie das Gehirn Fehler erkennt und aus den kleinsten Abweichungen lernt. Während der Coronapandemie wurde Priesemann weit über ihr Fachgebiet hinaus als Expertin für die Modellierung komplexer Systeme bekannt. Der Grund: Priesemann und ihr Team entdeckten, dass Ausbreitungsprozesse ganz ähnlich modelliert werden können, unabhängig davon, ob es sich um die Aktivität von 80 Milliarden Neuronen oder eine Virenausbreitung unter 8 Milliarden Menschen handelt.
Mit mathematischen Methoden will sie die zugrundeliegenden physikalischen Prinzipien von neuronalen oder sozialen Netzen entschlüsseln und eine allgemeine Theorie lebender, lernender Netzwerke entwickeln. Ihre Modelle reduzieren die komplexe Wirklichkeit auf das Wesentliche. „Modelle zwingen uns zur Klarheit“, sagt Viola Priesemann in einem Interview. Sie fördern auch die Klarheit in der Bewertung möglicher gesellschaftlicher Konsequenzen, sei es bei der Bekämpfung von Pandemien, Fake News, oder der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Themen, die man nicht unbedingt mit den Arbeiten einer Physikerin verbindet und die daher umso mehr überraschen. Neben Viola Priesemanns Forschung geht es im Gespräch mit Peter-André Alt auch um die Frage, wie öffentliche Diskurse zu wissenschaftlichen Themen geführt werden sollten.
Viola Priesemann
Viola Priesemann studierte Physik an der Technischen Universität Darmstadt, forschte an der Ecole Normale Superieure in Paris, am Caltech in Kalifornien, am Max-Planck-Institut für Hirnforschung und promovierte an der Universität Frankfurt. Sie ist Professorin für die Theorie neuronaler Systeme an der Universität Göttingen und leitet eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Bekannt wurde sie durch ihre Arbeiten zur Infektionsausbreitung und zu Eindämmungsstrategien während der Coronapandemie. Priesemann war Mitglied des „Corona-ExpertInnenrats“ der Bundesregierung, ist seit 2021 Mitglied der Jungen Akademie und dort Mitglied des aktuellen Präsidiums. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter jüngst den Young Scientist Award for Socio- and Econophysics der Deutschen Physikalischen Gesellschaft.
Irritieren Sie mich ist eine gemeinsame Veranstaltungsreihe der Jungen Akademie und der Wübben Stiftung Wissenschaft.
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